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Trauer braucht Zeit

Viele Menschen haben das Gefühl, schnell wieder funktionieren und in die Normalität zurückkehren zu müssen. Häufig sind es Bemerkungen von Nachbarn, Kollegen oder auch Freunden, die Trauernde dazu drängen, stark zu sein, ihre Trauer hinten anzustellen und „die Zeit alle Wunden heilen zu lassen“.

Dabei stehen Trauernde vor der Bewältigung einer der größten Krisen ihres Lebens sowie vor der Herausforderung, sich jeden Tag aufs Neue ihrer Bedürfnisse bewusst zu werden. Hierzu gehört auch, sich Zeit zu nehmen zum Trauern und Freiräume zu schaffen, in denen sie nicht funktionieren oder (für andere) stark sein müssen.

Denn die Trauer und der Schmerz brauchen Zeit, die nicht nach Tagen, Wochen oder dem Jahresrhythmus gemessen werden kann. Diese Zeit soll bewusst erlebt und gestaltet werden.

Dazu gehört es, sich dem erfahrenen Leid zu stellen und immer wieder auszuprobieren, was hilft und guttut.

Möchte ich Gesellschaft von Menschen, die mir nahe sind, oder brauche ich Ruhe?

Möchte ich an privaten Feiern auch allein teilnehmen oder eine Zeit lang gar nicht?

Kann ich meiner Arbeit nachgehen?

Habe ich Angst davor, an meiner Trauer zu scheitern, oder fasse ich den Mut, die Trauer auf mich zukommen zu lassen, sie mir mit der Zeit zur Verbündeten zu machen und damit leben zu lernen?

Bei all diesen Fragen ist es nicht die Gesellschaft, die bestimmt, was „richtig“ ist, sondern immer der Trauernde selbst. Er allein bestimmt die Dauer und das Maß seiner Trauer, die Zeit, die er benötigt, um das „normale“ Leben zurückzugewinnen.

Zeit, zu begreifen und zu verstehen

Zeit, die Konsequenzen des Verlustes zu erfassen

Zeit, mich zurückzuziehen

Zeit, für Klage und Sehnsucht

Zeit, für die Frage nach dem Woher und Wohin

Zeit, für Selbstgespräche und das stumme Gespräch mit dem, der gegangen ist

Zeit, herauszufinden, was meine Trauer braucht

Zeit, für merkwürdiges Verhalten, für Weinen und Lachen

Zeit, Menschen zu begegnen, die mich so nehmen, wie ich bin in meiner Trauer

Zeit, zu mir selbst zu finden

Zeit, zu akzeptieren

Zeit, aus der Begegnung mit dem Tod und der Erinnerung die Kraft für einen Neuanfang zu finden

Martina Görke-Sauer

 

 

Trauerphasen

Der kleine Text von Martina Görke-Sauer beschreibt in wenigen Worten, wofür die Trauerpsychologie ganze Modelle aufgestellt hat: die Phasen der Trauer.

Man nimmt an, dass Menschen sich in etwa vier Schritten durch die Trauerzeit bewegen, die im Grunde niemals abgeschlossen ist, jedoch von den Trauernden zunehmend anders empfunden wird.

Verena Kast hat diesen Phasen einen Namen gegeben:

In der ersten Phase, dem Nicht-Wahrhaben-Wollen, stehen Trauernde vor dem Problem, das Geschehene in die Realität einordnen zu müssen. Gefühle der inneren Fremdheit und des Verweigerns werden Stück für Stück überwunden. Aufgrund dieser ganz typischen Reaktion empfehlen wir auch den persönlichen Abschied. Er hilft, in dieser Zeit besser zurechtzukommen.

In einer anschließenden zweiten Phase, die als Phase der aufbrechenden Emotionen bezeichnet wird, kommt es zu Gefühlsausbrüchen, die sich damit erklären lassen, dass durch die vorherige Ablehnung der Realität noch kein Platz für die innere Antwort auf den Tod eines geliebten Menschen erfolgen konnte.

Nachdem sich die Gefühle ihren Weg gebahnt haben, können Trauernde in die Phase des Suchens und Sich-Trennens übergehen. Sie beschäftigen sich mit den Hinterlassenschaften der oder des Verstorbenen, suchen nach Hinweisen auf ihn oder sie in ihrem eigenen Leben und tragen sie zusammen. Manchmal auch, um sich bewusst von sehr Belastendem zu verabschieden.

Die vierte und letzte Phase nennt Verena Kast die Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs. Hier werden Gedanken und Dinge geordnet. Während vorher der Verlust den meisten Platz einnahm, entdecken Trauernde in dieser Phase, dass sie Möglichkeiten haben, sich zur neuen Situation zu verhalten. Die Trauer ist aus der Passivität zu einem aktiven Geschehen geworden.

Die Trauerphasen sind nicht beschrieben worden, um Trauernde unter Druck zu setzen, indem man ihnen etwa hätte vorschreiben wollen, in welcher Phase sie was zu tun oder zu lassen hätten. Sie geben einen Überblick auf das zu Erwartende und sollen entlasten, indem sie erklären: Die Not und der Kampf Trauernder ist eine wichtige Reaktion, die sein darf ‒ unabhängig davon, was andere davon halten.